Viega World Attendorn eröffnet
Zur Einweihung des 12.000 m² großen innovativen Gebäudes durch die Unternehmerfamilie Viegener waren u.a. Vertreter aus Landespolitik und Kommune, Architekt, Projektsteuerer, Planungsbeteiligte, die wissenschaftliche Begleitung im Bereich BIM, Unternehmensangestellte, Azubis sowie Gäste von Verbänden und Unternehmen geladen.
Fortbildung am "offenen Herzen"
Das Familienunternehmen setzt mit dem Neubau und einer Investitionssumme im hohen zweistelligen Millionenbereich gezielt auf die vielseitige Aus- und Weiterbildung von Fachkräften. Nach dem Motto „Lernen am lebenden Objekt“ werden in der Viega World die Schulungsinhalte der Seminare zu den Themen Technische Gebäudeausrüstung (TGA) und Building Information Modeling (BIM) im Gebäude praktisch erlebbar gemacht.
Das interaktive Lehrgebäude zeigt zudem, wie Bauprojekte von der Integralen Planung mit der Arbeitsmethodik BIM profitieren können. Mit dem konsequenten Einsatz von BIM wurde der Betrieb des Gebäudes als klimaneutrales Weiterbildungszentrum bereits vorausgeplant. Das Gebäude wurde vorab mithilfe eines digitalen Zwillings konstruiert, der den gesamten Lebenszyklus des Gebäudes vom Bau über den Betriebsprozess bis hin zur Entsorgung abbildet. Dafür wurden und werden kontinuierlich Informationen aus Fachmodellen aller am Bau beteiligten Gewerke, wie Pläne der Technischen Gebäudeausstattung, der Stahl- und Betonarbeiten oder Elektroinstallationspläne, angereichert und übereinandergelegt.
Der Planungsprozess des klimaneutralen Gebäudes wurde von der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) mit der höchsten Bewertungsstufe Platin vorzertifiziert. Mit der Schlusszertifizierung wird in noch in diesem Jahr gerechnet.
Das weitläufige Gebäude ist mit zahlreichen interaktiven Ausstellungen mit einer Unzahl von Live-Installationssituationen aus dem Trinkwasser- und Sanitärbereich, dem Gas- und Ferwärmeleitungsbau sowie der Schiffstechnik, versehen, die sämtlich funktionstüchtig sind. Jede einzelne verfügt über einen separaten Wasser- und Abwasseranschluss. Jeder Bereich kann digital angesteuert und das Geschehen mittels Live-Grafik an Monitoren dargestellt werden. Werkbänke erlauben es, selbst aktiv zu werden.
Alle Ausstellungsobjekte wurden von Anfang an BIM-seitig mitgeplant.
Die Gebäudetechnik ist im Übrigen auch durch offen in der Wand liegende bzw. verglaste Installationen sichtbar, deren interne Abläufe ebenfalls über Monitore auch digital verfolgt werden können. Das Live/Digital-Konzept setzt sich in den Seminarräumen fort.
Den Mittelpunkt der Ausstellungszone bildet die Viega Sphere, ein 360°-Rundumkino mit 3D-Technik, die u. a. die Ebenen des digitalen Gebäudezwillings anschaulich und beinahe zum Anfassen und Hindurchgehen darstellt.
Integrale Planung mit Building Information Modeling
Die Rolle der Gebäudetechnik als Strukturgeber bei der Planung von Neubauten und Bestandssanierungen wird zunehmen, meint Professor Dr.-Ing. habil. Christoph van Treeck von der RWTH Aachen University. Über die dezidierte Bedarfsplanung bekamen die „Lebensadern des Gebäudes“ in der Viega World – wie die (Rohr-)Leitungssysteme für Wärme, Kälte, Trinkwasser und Energie – ein solches Gewicht, dass die dahinterstehenden Trassenkonzepte zum Teil noch vor Architektur und Tragwerk im Planungsprozess berücksichtigt wurden.
„Mit der Gebäudetechnik als wichtigstem Strukturgeber wurde eine vollkommen neue Herangehensweise in der Planung etabliert", so van Treeck. "Dies führte auch in den beteiligten Planungsbüros zur Einführung neuer Organisationsformen. Das Projekt hat damit eine Vorbildfunktion, insbesondere für eine fundierte Bedarfsplanung und Projektentwicklung. Bereits vor Beginn der eigentlichen Planung wurde ein gewerkeübergreifender Dialog gefordert, um integrale Zusammenhänge in Konzepten zu lösen. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse sind inzwischen sogar schon erfolgreich auf andere Bauvorhaben im In- und Ausland übertragen worden.“
Van Treeck führte gemeinsam mit Ulrich Zeppenfeldt (Viega Vice President Global Service & Consulting) in dem Projekt den Prozess der Integralen Planung mit der Arbeitsmethodik BIM zusammen und setzte das konzeptbasierte Vorgehen ganzheitlich in die Praxis um. In der Viega World wurden dadurch zahlreiche Standards gesetzt, die sich mittlerweile in der Normen- und Richtlinienarbeit rund um BIM wiederfinden. Der Prozess resultierte zudem in der Entstehung zweier Fachbücher.
Erkenntnisse, die beim Projekt gesammelt wurden, betreffen dabei insbesondere die Objektbeschreibung durch den Auftraggeber (Stichwort: Auftraggeber-Informationsanforderungen, AIA), die Prozessorganisation selbst und nicht zuletzt die Projektabwicklung (Stichwort: BIM-Abwicklungsplan). In der wurde über die Kollaboration der verschiedenen Gewerke auch juristisches Neuland betreten. „Im Ergebnis führte dies zu einer komplett neuen konzept- und prozessbasierten Herangehensweise, die für derartige Projekte künftig aber zum Standard werden dürfte“, so van Treeck.
Agiles Projektmanagement löst komplexe Herausforderungen
Dem Spatenstich im Jahr 2018 folgte ein fünfeinhalb Jahre währende Bauzeit. Konfrontiert wurde man etwa mit Problemen im Baugrund, die vorab nicht erkennbar gewesen waren. So erforderte etwa die Karststruktur im Untergrund, dass 300.000 t Magerbeton ins Fundament gegossen werden mussten. Der bereits vor der Corona-Pandemie grassierende Fachkräftemangel verzögerte das Auffinden einer bauausführenden Firma und schließlich kam die Pandemie und mit ihr und dem Ukraine-Krieg die Lieferengpässe. All dies stellte das Familienunternehmen, die Planungs- und Baubeteiligten und nicht zuletzt die Projektsteuerung vor diverse Herausforderungen. Zugleich präsentiert das Nutzungsprofil des Gebäudes seine eigenen besonderen Anforderungen.
„Bei der Realisierung eines solchen Großprojektes ist man eigentlich immer mit unterschiedlichsten Krisenszenarien konfrontiert, die sich über den Baufortschritt und die Schnittstellen der Gewerke nahezu zwangsläufig ergeben", sagt Norbert Preuß, geschäftsführender Gesellschafter Preuss Project Partner, der ab Leistungsphase 6 die Projektsteuerung innehatte. "Durch die in dieser Konsequenz noch vergleichsweise junge Herangehensweise über eine Integrale Planung mit der Arbeitsmethodik BIM waren und sind also mehr denn je agile Managementmethoden gefragt, um diese Szenarien aufzulösen. Das kann beispielsweise geschehen, indem man die Digitalisierung der Prozesse mit BIM als Teilmenge des Gesamtprojektes aufnimmt und dann interaktiv in den Projektablauf einbindet. Dadurch entstehen ganz neue Kollaborations- oder Beschaffungsmodelle für Ausführungsleistungen, die es in dieser Form bislang noch nicht gab. Und die es auch bei keinem Folgeprojekt geben wird, weil wir immer weniger nach Standards arbeiten werden ... Das nachhaltige Bauen von morgen erfordert also intelligente Konzepte – und ein ganz neues Denken!“
TGA für ein klimaneutrales Gebäude
Die Viega World soll als klimaneutrales Gebäude in der Netto-Primärenergiebilanz mehr Energie erzeugen, als sie im Betrieb benötigt. Erreicht wurde dies über das vom Fraunhofer Institut ISE begleitete und von der Bundesregierung geförderte Forschungsprojekt „Energie.Digital“; in die Praxis umgesetzt unter anderem durch eine 3.000 m² große PV-Anlage im Bereich Dach, Außenwand und Parkplatz, ein Nahwärmekonzept (hier wird die Abwärme einer Produktionshalle auf dem Gelände genutzt), zwei Wärmepumpen (Luft/Wasser und Wasser/Wasser) sowie eine vernetzte, verbrauchsoptimierende Steuerung. Zum Energiekonzept gehört zudem eine Betonkernaktivierung und das gesamte Gebäude ist mit Flächensystemen für Decke, Wand und Boden von Viega ausgestattet. Im Rahmen einer komplexen Gebäudeautomation sorgen ca. 16.000 Sensoren für umfangreiches Datenmaterial.
Attersee und Attendorn
Das Viega Center am Stammsitz in Attendorn ist sozusagen der „große Bruder“ des bereits fertiggestellten Centers am Attersee in Österreich, dessen Planung und Bau später starteten und bereits im vergangenen Jahr abgeschlossen wurden. Hier gab es ausgedehnte Synergien: 80 % der in Attendorn etwa im Bereich BIM erlangten Erkenntnisse wurden auf Österreich übertragen und führten dort zu massiven Effizienzgewinnen bei der Bauzeit.
Video:
Walter Viegener plaudert im Vorraum der Viega Sphere aus dem Nähkästchen zur Entstehung dieses Raumes, der nicht Teil der ursprünglichen Planung war. Die Sphere selbst lässt sich nur persönlich erleben.