Interview

Prof-Dr. Lamia Messari-Becker, Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen

Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, sprach mit Prof. Dr. Lamia Messari-Becker über Demokratie, Klimaschutz und Nachhaltigkeit.

Prof. Dr. Lamia Messari-Becker, Foto: J. Schmitz - Urban Development.
Prof. Dr. Lamia Messari-Becker, Foto: J. Schmitz - Urban Development.

Von Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie

Die Bauingenieurin Lamia Messari-Becker (48) ist Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen. Bis Juni 2020 gehörte die gebürtige Marokkanerin dem Sachverständigenrat für Umweltfragen der Bundesregierung an. Messari-Becker ist Mitglied des Club of Rome International, der sich für eine nachhaltige Zukunft der Menschheit einsetzt.

Frau Prof. Dr. Messari-Becker, schön, dass wir Sie als neues „Gesicht“ für die Initiative Gesichter der Demokratie gewinnen konnten. Was bedeuten Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Demokratie ist für mich die Seele und das Rückgrat einer Gesellschaft, die in Freiheit, Frieden und Gleichberechtigung lebt. Unsere Verfassung bietet das Fundament und die Instrumente, mit denen wir alle Herausforderungen lösen und gemeinsam Fortschritt entwickeln können. Das zeigt sich besonders in Krisen. Wir sind in guter Verfassung und für mich gibt es kein besseres System. Aber Demokratie muss täglich mit Leben gefüllt und verteidigt werden. Die Sichtweise, dass unsere Verfassung und die Instrumente der parlamentarischen Demokratie nicht ausreichen, um Zukunft zu gestalten, kommt inzwischen aus Ecken, die man kaum vermutet. Ein Beispiel, das ich selbst erlebt habe: Der Sachverständigenrat für Umweltfragen schlug etwa 2019 vor, einem neuen Rat für Generationengerechtigkeit ein aufschiebendes Vetorecht gegen Gesetze im Parlament einzuräumen. Für die „gute Sache“ argumentierte der Rat in einem Gutachten mit dem Titel „Demokratisch regieren in ökologischen Grenzen - Zur Legitimation von Umweltpolitik“ teils mit „Androhung eines Vetos in Verbindung mit ‚medialem Echo‘, Druck auf politische Entscheidungsträger, … dass man sie notfalls zwingen kann“. Da wird die Demokratin in mir hellwach! Wes Geistes Kind ist diese Sprache, diese Haltung? Ich war und bin strikt gegen ein solches Vorhaben. Ich befürchte, dass demokratische Grundwerte für viele Menschen zu selbstverständlich geworden sind.

Schon seit Langem setzen Sie sich für eine stärkere Integration der Gebäude- und Stadtentwicklung in die Klimapolitik ein. Doch was haben Bauen und Stadtentwicklung mit Demokratie zu tun?

Eine Menge. Denken Sie an polarisierende Bauprojekte und an Bürgerinitiativen dagegen, an Ausgleich unterschiedlicher Bedürfnisse und Konkurrenzen der Stadtentwicklung (Wohnen, Infrastruktur, Grün). Die einen sind gewählt und wollen Projekte umsetzen, die anderen üben Widerstand aus. Demokratische Grundwerte ermöglichen Bürgerinnen und Bürgern sich an städtebaulichen Projekten zu beteiligen, Abwägungen zu treffen, für Ausgleich zu sorgen. Viele Veränderungen haben eine baurechtliche, gestalterische und räumliche Dimension, beispielsweise die Energie- und Mobilitätswende. In der Frage „Wie wollen wir leben?“ brauchen wir gesellschaftlichen Diskurs, Konsens, Kompromisse - das geht nur in einer Demokratie. Oder nehmen Sie die kommunale Selbstverwaltung im Grundgesetz. Sie ermöglicht Kommunen, bei der Lösungssuche in übergeordneten Fragen ihre individuelle Situation angemessen zu berücksichtigen und so auch Menschen mitzunehmen. Auch das ist Demokratie.

Apropos Demokratie: Sie selbst sind gebürtige Marokkanerin. Welche Möglichkeiten sehen Sie, um Menschen mit Migrationshintergrund stärker am demokratischen Geschehen in Deutschland zu beteiligen?

Ich gestehe, dass in Ihrer Frage ein wenig mitschwingt, dass sich Migranten per se weniger stark am demokratischen Geschehen in Deutschland beteiligen. Da widerspreche ich. Meine Erfahrung ist: Insgesamt engagieren sich zu wenige für Demokratie. Herkunft ist da zweitrangig. Viel eher gibt es viele Migranten, die sich für Demokratie und Mitsprache engagieren, weil sie eben oft erlebt haben, dass demokratische Werte in ihrer ursprünglichen Heimat nicht selbstverständlich sind. Was mir aber auch wichtig ist: Es wäre viel gewonnen, wenn Menschen mit einer solchen Biographie schlicht aufgrund ihrer Expertise, ihres Engagements, ihrer Leistungen und Arbeit stärker eingebunden werden und ihnen alle Türen offen stünden. Dadurch entstehen nebenbei positive Vorbilder, die wiederum zur Normalisierung und Entkrampfung beitragen - viel mehr als jede Quote. Ich durfte die Bundesregierung für vier Jahre im Sachverständigenrat für Umweltfragen (2016-2020) beraten und vertrat die Themengebiete „Bauingenieurwesen und nachhaltige Stadtentwicklung“, die sehr umweltrelevant sind. Ich war die erste Bauingenieurin und Praktikerin. Das war mir wichtig. Womöglich war ich auch die erste mit Migrationsbiographie, die erste muslimisch-jüdisch geprägte Rätin in diesem Gremium. Das war für mich nebensächlich. Für andere aber offenbar nicht. Ich wurde gefragt „Wie kommt jemand wie Sie zu so einer Berufung?“ Bezüglich meiner Ablehnung des Vetorechts für einen „Generationengerechtigkeitsrat“ im Parlament wurde mir gesagt: „Sie haben doch gar keine Ahnung von unseren Gesetzen“. Habe ich doch! Ich lebe in Deutschland seit 1992 und träume deutsch. Die Verfassung, unser gemeinsames Fundament, sollte jeder kennen, egal welche Religion, Sprache oder Kultur man noch kennt. Es sind eben unsere Gesetze.

Stichwort US-Wahl: Joe Biden will die USA zurück in das Pariser Klimaabkommen führen. Wie bewerten Sie diese Ankündigung und welche Impulse in Sachen Klimaschutz und Nachhaltigkeit erwarten Sie noch?

Eine gute Nachricht. Es ist wichtig, alle Nationen an Bord zu haben, auch weil Klimaschutz nur global zu lösen ist. Ein Stopp der Erderwärmung kann nur mit riesigen CO2-Minderungen gelingen. Daher müssen alle mitmachen. Ich erwarte von den USA, als eine der stärksten Wirtschaftsnationen, dass sie die Ökologisierung der Weltwirtschaft mit anschieben, um Klimaschutz und Fortschritt zu verbinden. Wir brauchen eine globale Allianz für Kreislaufwirtschaft. Denn 40 Prozent der afrikanischen Bevölkerung haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, zu bezahlbarer Energie etc. Der Ressourcenverbrauch wird also massiv steigen. Diesen müssen wir von den Umweltschäden abkoppeln - durch Effizienz, Kreislaufwirtschaft und saubere Energie. Alles andere hilft nicht.

Im Vorgespräch sagten Sie, dass Sie die Klimaproteste von „Fridays for Future“ grundsätzlich befürworten - manches jedoch kritisch sehen. Was genau werfen Sie der Bewegung oder einzelnen Aktivisten vor?

Eine kritische Sichtweise ist für mich nicht automatisch ein Vorwurf. Ich bin sehr dafür, sprachlich ein wenig abzurüsten, wenn wir um die besten Lösungen streiten. Die Fridays for Future-Bewegung ist Ausdruck einer aktiven Zivilgesellschaft in einer Demokratie und hat viel bewegt. Alle Parteien müssen sich nun programmatisch zum Klimaschutz aufstellen. Das ist auch ein Verdienst der Fridays for Future-Bewegung. Es gab von Anfang an aber Affekte, die ich in einer Demokratie für schwierig erachte. Ich denke an Aussagen wie „Das Klima vertrage keine Kompromisse“. Nun ist es aber so, dass Kompromisse das Wesen einer Demokratie sind. Auch wenn die Herausforderung noch so epochal ist. Diese Aussage haben viele zu Recht kritisiert, darunter der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Wir brauchen Kompromisse, damit alle mitmachen und zusammenbleiben. Inzwischen nehme ich konstruktivere Töne wahr. Ich hoffe, im Laufe des Dialogs werden auch die Forderungen weniger radikal, dafür praxistauglicher und akzeptierter. Wir lösen diese Aufgabe nur im Miteinander, nur durch Brückenbauen, nicht im Konflikt.

Sie sind Mitglied im Club of Rome International. Welchen Beitrag leistet dieser, um Antworten auf die globalen Fragen des 21. Jahrhunderts zu finden? Sind solche „elitären Zirkel“ überhaupt noch zeitgemäß?

Vor fast 40 Jahren hob der Club of Rome mit dem Buch „die Grenzen des Wachstums“ ein wichtiges Thema auf die Weltbühne - womit beschäftigen wir uns heute? Immer noch damit! Der Club hat auch die Ressourcenknappheit in den Mittelpunkt gerückt. Ein Problem, das immer noch viele völlig ignorieren. Aktuell sind einige Impulspapiere zu nennen, unter anderem Climate-Planetary Emergency oder Rethinking Finance. Elitär? Sehe ich nicht so. Aber es ist ein begrenzter Kreis von 100 Mitgliedern, um Positionen noch gemeinsam erarbeiten zu können. Und gemeinsames Ziel aller Mitglieder und Ehrenmitglieder, ob ehemalige RegierungschefInnen, WissenschaftlerInnen, UnternehmerInnen, KommunalpolitikerInnen oder RentnerInnen ist es, einen Beitrag zur nachhaltigen Zukunft der Menschheit zu leisten - ein zutiefst soziales Ziel und zwar im globalen Sinne.

Frau Prof. Dr. Messari-Becker, gerne möchten wir abschließend erfahren: Wie nachhaltig und ressourcenschonend wohnen Sie und gibt es Dinge, die Sie in Ihren „Vier Wänden“ zukünftig noch verbessern möchten?

Ich wohne in einem Haus aus den sechziger Jahren. Anstatt abzureißen haben mein Mann und ich - mit aller Macht und enormem Aufwand - die Substanz erhalten, denn darin steckt eine Menge „graue Energie“. Ich weiß als Bauingenieurin zu gut, dass Abriss und Neubau nicht per se nachhaltig ist. Wir haben es saniert und in Holzbau aufgestockt. Der Energiebedarf wurde dadurch mehr als halbiert. Der nächste Schritt ist der Umstieg auf moderne Heiztechnik. Ansonsten kaufe ich gerne Gemüse ein, die nicht der Norm entsprechen. „Krumme Dinge“ werden sie genannt, dabei entsprechen eher sie der Natur.

Vielen Dank für das Interview Frau Prof. Dr. Messari-Becker!

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