In Mannheim werden etwa zwei Drittel der gesamten Nachfrage nach Wärme über die Fernwärme abgedeckt. Das Fernwärmenetz versorgt inzwischen nicht nur die Stadt, sondern die ganze Region. In seiner Unternehmensstrategie „Mannheimer Modell‘ plant der in Mannheim ansässige Energiekonzern MVV Energie AG die vollständige Abkehr von der fossil-basierten Strom- und Wärmeversorgung. Eine zentrale Rolle soll der Rhein spielen.
Dass es keine Energiewende ohne Wärmewende geben kann, gilt als unstrittig. Beides gehört zusammen, erfordert aber unterschiedliche Strategien. Das hat der Mannheimer Energiekonzert MVV Energie AG erkannt und präsentierte im Vorfeld seiner letztjährigen Bilanzpressekonferenz das „Mannheimer Modell“. Demnach soll bis zum Jahr 2030 eine CO2-Reduktion von mindestens 80 % der Emissionen aus dem Jahr 2018 erreicht werden. Der Fernwärmebereich soll bis dahin sogar vollständig klimaneutral werden. Überdies möchte das Unternehmen im Jahr 2040 überhaupt kein CO2 mehr in die Atmosphäre entlassen, sondern dann sogar welches von dort bei der Rauchgasreinigung der Müllverbrennungsanlage abscheiden. Rein rechnerisch soll das eine negative CO2-Bilanz ergeben.
MVV und die Erneuerbaren
Damit in absehbarer Zeit der gesamte Strom der MVV aus erneuerbaren Energien stammt, sollen zusätzliche Wind- und Solarparks entstehen: Die Tochterunternehmen Juwi und Windwärts entwickelten bereits 1.200 Windräder an 220 Standorten weltweit, die pro Jahr etwa 5,4 Mrd. kWh Energie produzieren; bei Juwi sind national und international bereits 800 MW Zubau genehmigt. Im Bereich Solar sind es 1.790 PV-Anlagen mit einer Gesamt-leistung von 3.150 MW und einem jährlichen Energieertrag von 4,3 Mrd. kWh.
Um derart ehrgeizige Ziele zu erreichen, nannte Vorstandsvorsitzender Dr. Georg Müller mehrere Bausteine, wie die Nutzung der Abwärme aus Abfallbehandlung, die Nutzung der Energie aus Biomasse, aus der Klärschlammverbrennung sowie die Gewinnung und Nutzung von Biomethan, Geothermie und industrieller Abwärme.
Nach dem 24. Februar 2022, dem Tag des Einmarsches der russischen Armee in die Ukraine erfährt nun vor allem der Energieträger Erdgas, bis vor Kurzem noch als umweltgerechtere Alternative zu Kohle und Öl angesehen, eine völlig Neubewertung. Hochmoderne und vergleichsweise emissionsarme Gaskraftwerke sollen perspektivisch vom Netz, Steinkohle- und sogar Braunkohlekraftwerke stehen vor einer Renaissance. Der Klimaschutz muss erst einmal warten, wie es scheint.
Auch die MVV Energie AG muss sich angesichts der weltpolitischen Lage und der energiepolitischen Strategie der Bundesregierung Gedanken machen, da die Abschaltung der Kohleblöcke des Großkraftwerks Mannheim (GKM), das die meiste Fernwärme liefert, beschlossene Sache war. Doch ein Strategiewechsel steht nicht auf dem Plan.
„Nie waren unsere Ziele des Mannheimer Modells, mit dem wir bis zum Jahr 2040 klimaneutral und ab 2040 #klimapositiv sein wollen, so richtig und wichtig wie in diesen Zeiten. Langfristig benötigt es Energieautarkie, den Ausbau der erneuerbaren Energien und den Umbau der Fernwärme auf klimaneutrale Quellen“, erklärt MVV-Sprecher Sebastian Ackermann. Die Energiewende sei nicht nur der richtige Kurs für den Klimaschutz, sondern auch der entscheidende Hebel für die Unabhängigkeit von fossilen Energielieferungen aus Russland. „Daher halten wir unverändert an unserer Strategie fest.“
Wärmepumpe „Made in Sweden“
Ein entscheidender Baustein wird dabei der Einsatz von Flusswärmepumpen sein. In der grundlegenden Technik unterscheiden sie sich nicht von einer Wärmepumpe aus dem Privatbereich, die etwa dem Grundwasser oder dem Erdreich Wärme für die Raumheizung entzieht.
Im April dieses Jahres war der Spatenstich für eine Flusswärmepumpe auf dem Gelände des Mannheimer Großkraftwerkes (GKM), einem Gemeinschaftskraftwerk der RWE Generation SE, der EnBW Energie Baden-Württemberg AG und der MVV RHE GmbH. Das GKM beliefert den Standort Mannheim mit Strom und Fernwärme und die Fernwärme Rhein-Neckar GmbH mit Fernwärme. Die Fernwärmeleitungen reichen weit über die Stadtgrenzen hinaus bis nach Speyer im Süden und Heidelberg im Osten. Mehr als 60 % der Mannheimer Haushalte sind bereits an das etwa 600 km lange Netz angebunden.
„Zu den grünen Technologien, mit denen wir die Wärme aus dem GKM nach und nach ersetzen, gehört ab 2023 auch die innovative Flusswärmepumpe“, erklärte MVV-Technikvorstand Dr. Hansjörg Roll. Geliefert und gebaut wird die Flusswärmepumpe, die dann eine der größten Europas sein wird, von Siemens Energy.
Das Unternehmen hat im Bereich Industrie-Wärmepumpen langjährige Erfahrung. In Finnland und vor allem in Schweden laufen seit etwa 1980 rund 50 Großwärmepumpen – „weitgehend störungsfrei“, wie eine Unternehmenssprecherin versichert. Sie bewegen sich im Leistungsbereich von 11 bis 125 MWth. Die für Mannheim vorgesehene Niedertemperatur-Wärmepumpe SHP-C600 kommt auf eine Wärme-Ausgangsleistung von 20 MWth und ermöglicht ein Temperaturniveau von 99 °C. Sie wird im schwedischen Werk Finspang gefertigt.
Bestehende Infrastruktur nutzen
Die Funktion entspricht der einer üblichen Industrie-Wärmepumpe: Das Wasser, das dem Rhein entnommen wird und im Sommer bis zu 25 °C warm ist, gelangt in den Verdampfer, wo es per Wärmetauscher Wärmeenergie an das flüssige Kältemittel abgibt und dieses zum Verdampfen bringt.
Das verdampfte Kältemittel strömt durch einen Tropfenabscheider (Demister) in die erste Stufe eines 2-stufigen Turbokompressors, der von einem Elektromotor über ein integriertes Getriebe angetrieben wird. In der ersten Stufe des Verdichters wird das Kältemittel auf einen Zwischendruck verdichtet. Die zweite Stufe des Verdichters verdichtet das Kältemittel auf den endgültigen Prozessdruck.
Das überhitzte Kältemittel strömt in die Mantelseite des Kondensators, wo das gasförmige Kältemittel kondensiert, während es das fließende Wasser erwärmt und das Fernwärmenetz mit der benötigten Wärme versorgt. Das Kältemittel wird im unteren Teil des Verflüssigers unterkühlt. Um eine maximale Unterkühlung zu erreichen und die Leistung zu erhöhen, wird ein Unterkühler nachgeschaltet. Mit dem Durchströmen eines Hochdruckregelventils und eines Entspannungsbehälters wird der Kreislauf geschlossen.
Mit der Anlage sollen jährlich 50 GWh Wärme für das Fernwärmenetz bereitgestellt werden, bei einem Strombedarf von 7 MW, der aber, so versichert der MVV-Vorstand, ausschließlich regenerativ aus Sonnen-, Wind- und Wasserstrom gedeckt würde. „Was wir nicht selbst erzeugen, kaufen wir vom Markt“, so Hansjörg Roll. Mit der Anlage, die schon im April 2023 in Betrieb gehen soll, lassen sich mehr als 10.000 t CO2-Emissionen pro Jahr gegenüber einer Wärmeerzeugung per Gaskessel bei 2.500 Betriebsstunden einsparen, heißt es bei Siemens Energy. In Mannheim werden damit ab kommendem Jahr rund 3.500 Haushalte mit Fernwärme versorgt.
Der Standort auf dem Gelände der Großkraftwerk Mannheim AG erlaubt es, die bestehende Infrastruktur zu nutzen – insbesondere die großen Wasserein- und -auslassbauwerke sowie den Anschluss an das Fernwärmenetz. Zusammen mit dem bereits auf dem Gelände vorhandenen großen Fernwärmespeicher ergeben sich vielfältige Synergien und Flexibilität, heißt es bei der MVV.
Enormes Potenzial
Die Investition der Flusswärmepumpe liegt in der Größenordnung von 15 Mio. Euro. Die Anlage wird als Teil des BMWK-geförderten so genannten Reallabors der Energiewende „Großwärmepumpen in Fernwärmenetzen – Installation, Betrieb, Monitoring und Systemeinbindung“ mit 5,7 Mio. Euro gefördert.
Ziel der Reallabore ist es, die Dekarbonisierung der Wärmeversorgung voranzutreiben. An insgesamt fünf unterschiedlich strukturierten Standorten in Deutschland installieren die verschiedenen Projektpartner Großwärmepumpen in bestehende Fernwärmesysteme.
Reallabor Großwärmepumpen
Das „Reallabor Großwärmepumpen in Fernwärmenetzen“ ging als Gewinner aus dem BMWi-Ideenwettbewerbs ‚Reallabore der Energiewende‘ hervor und ist ein Verbundforschungsvorhaben unter Führung des Energieeffizienzverbandes für Wärme, Kälte und KWK e. V. AGFW. Mehrere Energieversorger und wissenschaftliche Institute aus ganz Deutschland erforschen im Rahmen des mehrjährigen Projekts die Potenziale und Anwendungsbedingungen von Großwärmepumpen in Fernwärmenetzen.
An fünf Kraftwerksstandorten in Berlin-Neukölln, Berlin-Köpenick, Stuttgart, Mannheim und Rosenheim werden dazu Großwärmepumpen errichtet und im Realbetrieb getestet. Das Gesamtprojektvolumen beträgt 45 Mio. Euro. 21 Mio. Euro entfallen auf die Förderung durch das BMWi, 24 Mio. Euro werden von den Partnern erbracht.
Das dabei gewonnene Wissen soll später dabei helfen, mit weiteren Wärmepumpen noch mehr grüne Wärme zu erzeugen. Das Potenzial ist enorm: Allein in Mannheim könnten Rhein und Neckar selbst bei konservativer Schätzung mindestens 500 MW entzogen werden. Dies entspricht der maximalen Wärmeleistung des Blocks 9 im GKM und reicht aus, um rund 50.000 Haushalte mit Wärme zu versorgen. Wie inoffiziell verlautet, läuft für den Standort Mannheim bereits eine Konzeptstudie für eine Flusswärmepumpe mit einer Leistung von 250 MW.
Die MVV baut zeitgleich zur Flusswärmepumpe zwei so genannte Besicherungsanlagen mit Heißwassererzeugern zur Besicherung des Fernwärme- und Ferndampfbedarfs der MVV-Kunden auf der Friesenheimer Insel und am Rheinufer Neckarau. Hier liege man gut im Zeitplan. Ihr Brennstoff: Erdgas. Theoretisch können sie aber auch mit Biomethan oder Wasserstoff betrieben werden.
Martin Boeckh
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