Nach der Welle ist vor der Welle

Nachhaltige Raumlüftungssysteme in Schulräumen – dass sie sinnvoll und notwendig sind, ist schon immer bekannt. Eingesetzt wurden sie jedoch bisher viel zu selten. Die Schwere dieses Fehlers hat die Pandemie klar und deutlich vor Augen geführt. Trotzdem lässt die Korrektur in vielen Fällen auf sich warten.

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1 – Partikelverteilungsdichte in urbaner Umgebung, bei einem Jahresmittelwert PM 10 von 16,7 μg/m³. Darstellung der Partikelverteilungsdichte nach zweimaligem Filtern mit einem ISO ePM1 85 % Filter /2/ - Bild: Britta Füngers, Masterarbeit 2020
1 – Partikelverteilungsdichte in urbaner Umgebung, bei einem Jahresmittelwert PM 10 von 16,7 μg/m³. Darstellung der Partikelverteilungsdichte nach zweimaligem Filtern mit einem ISO ePM1 85 % Filter /2/ - Bild: Britta Füngers, Masterarbeit 2020

Als die ersten Ausläufer der Covid-19-Pandemie im März 2020 Deutschland erreichten, waren die Konsequenzen nicht vorhersehbar und die benötigten raumlufttechnischen Maßnahmen erst einmal unklar. Speziell in der Gebäudetechnik stellte sich schnell die Frage, welche Strategie die richtige ist. Bereits nach kurzer Zeit wurde erkannt, dass Umluft in älteren Anlagen abgestellt und die Zuluftvolumenströme maximiert werden sollten. Offen blieb zunächst, welche Zuluftvolumenströme bzw. Luftwechsel angestrebt werden sollten.

Berechnungsgrundlagen für belastete Innenräume

Aufgrund der jahrelangen Erfahrung im Umgang mit deutlich gefährlicheren Schadstoffen sind prinzipielle Berechnungsgrundlagen, auf deren Basis Zuluftvolumenströme zur Verdünnung von Gefahrenstoffen berechnet werden können, bereits bekannt.

Eine einfache Massenbilanz, um Grenzwerte bestimmter Schadstoffe mittels Mischlüftung für einen betrachteten Raum im stationären Betrieb einzuhalten, liefert die auch in der DIN EN 16798 Teil 1 verankerte Berechnungsgleichung für den unbelasteten Zu- bzw. Außenluftvolumenstroms Qh:

Formel

Darin beschreibt Gh die im Raum freiwerdenden Schadstoffe, Ch,i die einzuhaltenden Grenzwerte und Ch,o die Konzentration des Schadstoffes in der zugeführten Außenluft. Diese Gleichung wird in der DIN 16798 Teil 1 um eine Korrektur mittels der Lüftungseffektivität erweitert, die hier nicht weiter betrachtet werden soll, da aktuell meist die Mischlüftung mit einem εν = 1 verwendet wird.1) Aus diesem stationären Ansatz leiten sich z. B. auch die Außenluftvolumenströme ab, die erforderlich sind, um die CO2-Raumluftkonzentationen unter den bekannten Grenzwert von 1.000 ppm zu verdünnen.

Fußnoten

  • 1) Die DIN 16798 Teil 1 ersetzt seit April 2021 die DIN EN 15251.

Neben dem stationären Ansatz ist seit vielen Jahren auch der Lösungsansatz für den instationären Belüftungsfall bekannt, der im weiteren Verlauf der Entwicklung von nachhaltigen Lüftungsstrategien unter Pandemiebedingungen gewählt wurde. Dieser wurde erweitert, so dass die über die Zeit kumuliert aufgenommenen Schadstoffmengen darin berücksichtigt werden.

 

PIRA: Ein erster Index für das Infektionsrisiko in z. B. Schulklassen

Fragen, die sich Anfang 2020 bezüglich der Bestimmungsgleichungen stellten, waren:

  • Wie viele Schadstoffe (Aerosole) stößt eine an SARS-CoV-2 erkrankte Person aus?
  • Wie viel davon darf eine gesunde Person einatmen, ohne zu erkranken?

Beide Fragen wurden am Herman-Ritschel-Institut untersucht und führten im weiteren Verlauf zur Entwicklung eines Kennwertes für die Beschreibung des Infektionsrisikos an SARS-CoV-2 (PIRA = Predicted Infection Risk for Aerosol Transmission of SARS-CoV-2 /1/). Da eine Übertragung nicht mit 100-prozentiger Sicherheit vermieden werden kann, erscheint ein PIRA-Wert von 10, also eine 90-prozentige Vermeidung einer Übertragung, als ein sinnvoller Planungsansatz. Daraus ergab sich, dass pro erkrankter Person ca. 750 m³/h unbelastete Außenluft, oder gefilterte Umluft zugeführt werden müssen, um für die Dauer von einer Stunde die Übertragung von SARS-CoV-2 auf andere Personen im Raum mit einer Sicherheit von 90 % auszuschließen.

Wie viel Außenluft braucht erfolgreiches Lernen?

Unter Betrachtung der aktuellen Vorgaben der DIN EN 16798 Teil 1 und den dazu seit Juni 2021 gemachten Vorschlägen für Deutschland, müssen einem typischen Klassenraum je nach Kategorie ca. 1.000 m³/h (Kategorie II = mittel), bzw. 550 m³/h (Kategorie II = moderat) unbelastete Außenluft zugeführt werden (Tabelle 1).

Bild: HUSS-MEDIEN GmbH
Bild: HUSS-MEDIEN GmbH

Dies sind keine neuen Erkenntnisse. Die Werte entsprechen grob den Planungsansätzen für zu belüftende Räume, die die TGA-Branche seit Jahrzehnten für unser Schulräume fordert. Wären sie zu dem Zeitpunkt umgesetzt worden, als ihre Notwendigkeit erwiesen war, wäre deutschen Schulen die unsägliche Debatte zur Fensterlüftung und Bastellösungen wie die der Regenschirmlüftung erspart geblieben. Leider wird an den entscheidenden Stellen, die für diese Situation verantwortlich sind, nur nachgedacht. Würde dort vorausgedacht, wäre bereits lange klar gewesen, dass Umluftsysteme keine Außenluft zuführen und offene Fenster kein optimales Mittel zur Bekämpfung von Covid- oder Grippewellen sind.

Leider fragten Politiker:innen und Gesetzgebende in vielen Fällen überhaupt keine TGA-Spezialist:innen, sondern Fachleute ganz anderer Wissenschaften nach Lösungen und Empfehlungen. Dabei wurden Themen wie die Raumakustik nur tangiert und das chronische CO2-Problem in den Klassenräumen ausgeblendet. Die katastrophal niedrige Raumluftfeuchtigkeit in unkontrolliert belüfteten Räumen im Winter sowie die Problematik des oft hohen Feinstaubanteils in der über die Fenster eingelassenen Außenluft wurde komplett vergessen.

Feinstaub

2016 kam es allein in Deutschland aufgrund von Feinstaubemissionen zu über 59.000 vorzeitigen Todesfällen. Unkontrollierte Lüftung bringt eine unnötige Staubbelastung in unsere Räume. Dieser ernsthaften gesundheitlichen Bedrohung trug die TGA mit der Einführung neuer Filternormen wie der DIN EN ISO 16890 bereits lange vor der aktuellen Pandemie Rechnung. Allerdings helfen Filter nur, wenn sie in raumlufttechnischen Anlagen zum Einsatz kommen. Fensterlüftung ist hier kontraproduktiv.

Britta Füngers zeigte in ihrer Masterarbeit: Entwicklung eines Berechnungstools nach DIN EN ISO 16890 /2/, dass durch zweimaliges Filtern mit einem Filter der Klasse ISO ePM1 85 % theoretisch deutlich über 99 % der hier relevanten Aerosolgrößen abgeschieden werden können.

Dies stellt auch für Umluftfiltersysteme einen interessanten, noch weiter zu untersuchenden Ansatz dar, da diese das Raumvolumen bei korrektem Betrieb und Planung noch öfter durch einen Filter dieser Kategorie umwälzen würden. Druckverluste, Energieverbrauch und vor allem die Akustik der Systeme werden dadurch nachhaltig verbessert. Damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass diese Systeme auch nach der aktuellen Pandemie in Räumen eingesetzt werden, in denen keine kontrollierten und nachhaltigen Lüftungsanlagen nachgerüstet werden können.

Mindestraumluftfeuchte im Winter

Insbesondere während der Pandemie ist die Aufrechterhaltung einer Mindestraumluftfeuchtigkeit fast so wichtig wie die Abscheidung virenbelasteter Aerosole. Dies zeigte etwa Dr. med. Walter Hugentobler, pensionierter Facharzt für Allgemeine Innere Medizin und Lehrbeauftragter des Instituts für Hausarztmedizin an der Universität Zürich, in Vorträgen auf einem Symposium des Fachverbands Gebäude-Klima e. V. (FGK) im Januar 2020 und auf dem TGA-Kongress im Januar 2021 /3/.

Hugentobler führte aus, dass bei ausreichender Fließgeschwindigkeit der Schleimhaut in den Atemwegen mit der Luft aufgenommene Viren herausgefiltert und hinreichend schnell abgeführt werden. Sinkt hingegen die Raumluftfeuchte, trocknen die Schleimhäute aus und die menschlichen Abwehrkräfte auch gegen SARS-CoV-2-Viren werden deutlich schwächer. Gleichzeitig wies Hugentobler auf die besondere Schutzwirkung der Nasenatmung hin: In Verbindung mit einer Maske kann die Auffeuchtung der Schleimhäute dabei ebenso erreicht werden, wie die Ausfilterung des größten Teils der Aerosolfraktion, in der das Virus übertragen wird.

Optimal für unser Abwehrsystem Schleimhaut ist eine Raumluftfeuchte zwischen 40 und 60 %. Dieser Punkt wird, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Vorbeugung gegen Schimmel in Gebäuden, bei fast allen aktuellen Lüftungsstrategien und Systemen vergessen. Bei typischen winterlichen Außenluftverhältnissen (z. B. 0 °C, 80 % r. F. = 3 gH2O/kgtr. Luft) ergibt sich bei einer unkontrollierten Fensterlüftung eine Raumluftfeuchtigkeit von unter 20 % r. F., wenn die Heizung ohne weitere Befeuchtung den Innenraum auf 21 °C Raumtemperatur hält. Dies liefert perfekte Ausgangsbedingungen für das Austrocknen der Schleimhäute in den Atemwegen und eine Infektion durch das Einatmen belasteter Aerosole.

Nachhaltige Schullüftung

Menschen geben über ihre Haut und die Atmung Wasserdampf an die Raumluft ab. Damit kann von einer gewissen Anfeuchtung dieser Raumluft ausgegangen werden. Zur Minimierung von Energieverlusten sind raumlufttechnische Anlagen i. d. R. mit Wärmerückgewinnungssystemen versehen. Durch den kontrollierten Luftaustausch, über z. B. einen klassischen Plattenwärmeübertrager als Wärmerückgewinner, geht diese Feuchte aber, wie in Bild3 gezeigt, verloren. Moderne Schullüftungsgeräte setzen hier anstelle der üblichen Wärmerückgewinnungssysteme Enthalpietauscher ein. Diese übertragen Wärme und Wasserdampf von der Abluft in die Zuluft, ohne Aerosole und damit SARS-CoV-2-Viren zu übertragen.

Diese Geräte können in kurzer Zeit eingebaut und nachgerüstet werden. Nötig sind lediglich eine Stromversorgung und eine unkomplizierte Außen-, bzw. Abluftanbindung. Dadurch werden alle relevanten Anforderungen an die Außenluftzufuhr, CO2-Abfuhr, Feinstaubfilterung, Raumluftfeuchtigkeit, Raumakustik und Wärmerückgewinnung nachhaltig erfüllt. Die Simulation eines solchen Systems in Bild 3 zeigt, wie sich in einem Klassenraum optimale raumlufttechnische Zustände einstellen, ohne dass eine künstliche Nachbefeuchtung im Winter erfolgen muss. Mit diesem Ansatz lässt sich auch nach der aktuellen Pandemie ein gesundes Raumklima und umweltbewusstes Belüften garantieren.

Viele der Aktivitäten in der technischen Gebäudeausrüstung konzentrieren sich im Augenblick auf den kommenden Winter. Virenvarianten, Impfmüdigkeit unter den Erwachsenen und Unsicherheiten hinsichtlich der Impfung jüngerer Schüler:innen erhöhen die Wahrscheinlichkeit weiterer Infektionswellen.

Vorausdenken erwünscht

Infektionswellen, Feinstaubbelastung in der Außenluft und der Einfluss der globalen Erwärmung sind jedoch Probleme, mit denen sich Gesetzgebung, Kommunen und Planer:innen unabhängig von der aktuellen Pandemie beschäftigen müssen. Bastellösungen und Fensterlüftung werden uns bei ihrer Lösung nicht helfen. Wer im Übrigen erst jetzt darüber nachdenkt, wie die Herausforderungen des kommenden Pandemie-Winters bewältigt werden sollen, muss auch aufgrund unterbrochener Lieferketten und steigender Preise mit Überraschungen rechnen.

Literaturhinweise

  • /1/ Kriegel, M.; Buchholz, U.; Gastmeier, P.; Bischoff, P.; Abdelgawad, I.; Hartmann, A.: Predicted infection risk for aerosol transmission of SARS-COV-2. Berlin: https://doi.org/10.1101/2020.10.08.20209106, 2020

  • /2/ Füngers, B.: Entwicklung eines Berechnungstools nach DIN EN ISO 16890. Masterarbeit, Steinfurt: FH Münster, FB EGU, 2020

  • /3/ Hugentobler, W.: „Deine Nase kann Corona stoppen.“ TGA-Kongress, 28./29. Januar 2021, Berlin

Prof. Dr.-Ing. Bernd Boiting

Prof. Dr.-Ing. Bernd Boiting
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Nach der Welle ist vor der Welle
Seite 14 bis 17
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